Untergehen ist das Eine, unter der Oberfläche bleiben das Andere. ;-)

Montag, 16. April 2012

Dysplasie


Spätsommer. Der Tag war sehr warm und von der Elbe her zieht nun kühlere Luft über die Uferwiesen. Stumm und ziellos bummeln wir an der untergehenden Sonne vorbei, einen Trampelpfad entlang, der im Nichts zu enden scheint. Ab und zu bricht das rotgoldene Grün auf und spuckt uns merkwürdige Gestalten entgegen.

»Ist das ein Mädchen?«

Sieht man das nicht? Der Mann ist über Fünfzig. Da sollte man solch feine Unterschiede zwischen weiblich und männlich erkennen können. Gut, so wie der aussieht – klein, dick, ästhetisch benachteiligt und mäßig bis mittelmäßig intelligent – könnte es sich um einen Dorfpfarrer handeln. Die nehmen es mit den Geschlechtern wohl nicht so genau.

»Oh, da muß ich aufpassen!«

Auf was?

»Das ist ein Junge. Meiner Frau ihrer. Also, der ist schon unser. Aber der war so lange krank.«

Das sieht man. Nicht nur, daß es ein Junge ist, sondern auch, daß er halb tot zu seien scheint. Der kann sich kaum auf den Beinen halten, zittert wie ein Junkie auf Entzug und guckt auch völlig umnachtet.

»Nicht, daß der sich aufregt! Das wäre gar nicht gut für ihn. Jetzt, wo sein Heilungsprozeß sich in der kritischen Phase befindet. Der Arzt hat extra noch mal darauf hingewiesen, daß der Junge sich nicht aufregen darf.«

Warum soll der sich aufregen? Meine Madam ist vierzehn Jahre alt!

»Dreizehn ist der Charly. Also, der heißt Charly. Das war der Wunsch meiner Frau. Ich hätte ihn ja lieber Hagen, Baldur oder Ansgar genannt. Aber na ja. Ich konnte mich da nicht so durchsetzen.«

Der arme Kerl. Alle vier Namen sind so etwas von albern. Der Mann ist entweder ein Jung-Nazi und Himmlers Germanenkult verfallen oder sonst irgendwie gegen das Paddel geknallt, und seine Frau heißt Hedwig und war zu oft im Kino. Diese Dorflichtspiele hatten außer »Drei Engel für Charly« sicher nichts weiter zu bieten.

»Meine Frau ist doch so vernarrt in alte Filme. In denen der Rühmann oder der Hörbiger zu sehen sind. Da ist die hin und weg. Früher hat die sich jeden alten Film, der montags im DDR-Fernsehen kam, angeschaut. Ich konnte da nicht mithalten. Montags war doch immer Parteiversammlung. Aber den Willi Schwabe, in seiner Rumpelkammer, haben wir uns immer zusammen angeschaut. Bei einem Glas Wein – das war schon schön.«

Ach du Scheiße. Der arme Kerl.

» ›Charlys Tante‹, mit dem Heinz und dem Paul, war ein schöner Film, der oft wiederholt wurde. Was haben wir gelacht! Meine Frau und ich. Die heißt doch auch Carlotta, so wie die Tante vom Charly. Also, so attraktiv wie die Hertha Feiler, die Schauspielerin, war meine Frau auch früher nicht – wir kommen beide aus einfachen Verhältnissen – aber imponiert hat ihr das schon, den selben Namen wie die Hertha tragen zu dürfen. Also hat sie den Jungen Charly genannt«

Das war mir fast klar. Mannomann. Der Mann kommt ja richtig ins schwärmen. Die schöne alte Zeit! Und jetzt kommen wohl keine alten Filme mehr oder hat man Beiden den Fernseher geklaut?

»Im Moment können wir nicht fernsehen. Der Junge darf sich doch nicht aufregen, da lassen wir das Gerät lieber aus.«

Was? Also, bei aller Liebe, aber das ginge mir dann doch zu weit. Ab ins Bett und fertig! Wie bei Madam. Nach dem Sandmännchen vertreten wir uns draußen noch mal kurz die Beine, so wie heute, und dann ist Feierabend für sie. Da will ich nichts mehr hören! Da ist es mir egal, ob sie Schnupfen oder gerade gekotzt hat. Da kann man eh nichts machen.

»Er schläft doch jetzt in der Stube. Weil der so krank ist. In seinem Zimmer ist es noch zu kalt und da ist er auch so allein. Wobei der doch jetzt so viel Fürsorge braucht. Da liegt er auf dem Sofa und wir sitzen daneben – meine Frau im Sessel und ich auf dem Küchenstuhl – und lesen ein wenig. Mit der Taschenlampe geht das schon, das große Licht lassen wir aus, damit der Charly seine Ruhe findet.«

Der sitzt doch echt im Dunklen. Nicht nur abends. Die spinnen komplett.

»Nachts schlafe ich dann bei ihm. Vor dem Sofa auf einer Decke. Das geht schon. Damit gleich jemand bei ihm ist, falls etwas passiert. Klar, das ist Quatsch. Was soll schon passieren? Und wenn, kann ich eh nicht viel machen. Aber es beruhigt einen doch und man kann besser schlafen. Obwohl, so richtig geschlafen habe ich seit seiner Operation nicht mehr.
Wie auch? Die Decke ist viel zu dünn, und nach einer halben Stunde liegen, tut mir schon alles weh. Früh stehe ich wie frisch gerädert auf. Aber wir haben nur diese Decke. Wir kommen doch aus einfachen Verhältnissen.«

Ding an der Waffel!

»Es ist schon schwierig im Moment. Man weiß ja sowieso nicht, ob er es noch lange macht.«

Dreizehn ist doch noch kein Alter. Da hat der Charly eigentlich noch einiges vor sich – wenn er die Fürsorge der Beiden überlebt.

»Eben. Das haben wir uns auch gesagt und ihn operieren lassen. Für 4500 Euro. Obwohl der Arzt davon abgeraten hat. Aber warum soll der sich so quälen? Da bekam er eben sein neues Hüftgelenk. Klar, es hätte schief gehen können. Seine Knochen sind ja so sensibel und sein Blutdruck ist viel zu hoch. Aber das mußten wir eben riskieren. Ob der Charly das wollte – man weiß es nicht. Die Entscheidung konnten wir ihm nicht überlassen.«

Das wäre ja noch schöner. Vielleicht bitte ich Madame noch um ihre Meinung. Die tut sie auch so kund. Der Charly ist ihr völlig schnuppe. Die ignoriert ihn einfach und schaut den vorbeifahrenden Radlern zu.

»Wie heißt denn das Mädchen? Ach, egal. Der Charly muß jetzt nach Hause. Unsere Unterhaltung hat ihn schon zu sehr angestrengt.«

Unsere Unterhaltung? Habe ich dazu überhaupt beigetragen? Ich kann mich nicht erinnern. Auch egal. Der Charly droht gleich aus den Latschen zu kippen. Es ist höchste Zeit, daß der auf sein Sofa kommt.

»Dann wünsch ich ihnen noch einen schönen Abend! Wir müssen! Vielleicht sieht man sich mal wieder? Bestimmt, wenn der Charly wieder auf dem Damm ist.«


Was ist das für eine kaputte Welt? Früher, bei uns auf dem Dorf, hätte der Charlie die Handkante ins Genick bekommen oder der Förster hätte die Sache diskret im Wald erledigt. Da wäre niemand auf die Idee gekommen, eine Operation einzuleiten. Niemand hätte dafür einen Pfennig ausgegeben. Schon allein deshalb, weil man noch wußte, wie knapp das Geld sein konnte, was Hunger bedeutet und daß es Menschen gab, die es dringender nötig hatten. Wo anders verrecken heute noch Kinder an Mangelernährung, an vergammeltem Wasser oder an hoffnungslos überlagerten Medikamenten, und hier bekommt ein Charly ein sauteures Hüftgelenk verpaßt, von dem er in seinem Alter vielleicht nicht mehr viel haben wird.

Madam schnuppert dem abdackelnden Charly hinterher, zieht an der Leine, um auf der Wiese hier ihren allabendlichen Haufen zu hinterlassen. Damit wäre die Hunderunde beendet. Die alte Dame weiß das und zieht so resolut an der Leine, daß mir nichts anderes übrig bleibt, als ihr in Richtung meiner Wohnung zu folgen.

9 Kommentare:

  1. hühnerschreck16.04.2012, 20:16:00

    hm. früher(TM) gab es ja "bei uns auf dem dorf" auch noch kloppe wie bei vatern(TM) und zucht, ordnung, anstand und disziplin. und auf erbsen knien, wenn man gesündigt hatte, wahlweise auch rückenmarkschwund und erblinden und lauter so großartige sachen. hach ja, die gute alte zeit ...
    und außerdem, stimmt schon, es ist schon besser, wenns schöne geld auf der hohen kante rumoxydiert. da haben wenigstens noch die erben was davon. oder wohltätige organisationen, bei denen immer so richtig viel übrigbleibt von den spenden, nachdem der wasserkopf durchfinanziert wurde.

    (dass es der pfarrer un sin fru durchaus übertreiben mit ihrer vermenschlichung des armen krummbeins, ist eine andere sache.)

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  2. Über allem hängt ein Hauch von Zwinker ...

    Ich provoziere sehr gern, um überhaupt eine Reaktion zu bekommen. Beim schreiben mußte ich an dich denken und habe das anschließende Dauergrinsen fast genossen. Insofern ist alles, was ich hier schmierfinke relativ zu sehen. Wenn es dich beruhigt: Madam ist nicht mein Hund, ich mußte ihr nur Obdach und was zu fressen geben. Vor Jahren gehörten nacheinander zwei schwarze Kater zu meinem Haushalt, für die ich beim Tierarzt kräftig löhnen mußte, bevor sie, um anständig zu sterben, auf nimmerwiedersehen verschwanden. Der Wellensittich der gerade mein Zimmer verwüstet zählt nicht.

    Es war schön mal was von dir zu hören. *g*

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  3. Hat dich ein gewisser Hund inspiriert?
    Und: konnten bei euch aufm Dorf alle »Handkante«? Respekt! ;o)

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  4. Keine Ahnung. Die Handkante habe ich aus dramaturgischen Gründen frei erfunden. Aber der Förster stimmt. Zumindest habe ich von verschiedenen Seiten gehört, daß Streuner, ob Katz oder Hund, prinzipiell sofort erschossen werden. Mit oder ohne Leine, mit oder ohne Katzenkörbchen.

    Ja, der gewisse Hund ist schuld am Text. Im Moment liegt er schon wieder bei mir auf dem Sofa und tut ganz unschuldig. Als könnte er keine Tinte trüben. *g*

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    1. Und ich dachte schon, ihr hättet damals werkseitig nen Karatechip verpasst bekommen. Hätte ja an sich nicht schaden können, Kampfgruppe, BSG und so... ;o)

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    2. Es hätte gewisse Vorteile gehabt. Aber der bäuerliche Nahkampf hatte auch seine Vorzüge. Er war ehrlich und direkt. Hände waschen und dann gabs einen in die Eiehhh... auf die Nuss.

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  5. Ach, ja, die Vermenschlichung des Brehm'schen Tierlebens vollzieht sich auch im 3. Jahrtausend der chr.Zeitrechnung in einer rasanten Weise, dass dem Tierliebhaber der Atem stockt. Neben, den über 1,3 Mrd. Euro, die die Tiernahrungshersteller jährlich umsetzen, kommen einige hundert Millionen an Tröpfchen, Wässerchen und Pillen sowie exorbitant hohe Tierarzthonorare hinzu. Sei's drum; auch diese Branche will leben. Wenn ich dann höre, dass ein Goldhamster operiert wird, diese OP 145 Euronen kostete und der nach einigen Wochen sein stark befristetes Leben aushaucht, frage ich mich doch tatsächlich, ob eine den Kids unter gejubelter Klon aus der industriellen Produktion für 10 Euro es nicht auch gemacht hätte.
    Tierliebe geht durch den Geldbeutel.

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  6. Ach, ja, die Vermenschlichung des Brehm'schen Tierlebens vollzieht sich auch im 3. Jahrtausend der chr.Zeitrechnung in einer rasanten Weise, dass dem Tierliebhaber der Atem stockt. Neben, den über 1,3 Mrd. Euro, die die Tiernahrungshersteller jährlich umsetzen, kommen einige hundert Millionen an Tröpfchen, Wässerchen und Pillen sowie exorbitant hohe Tierarzthonorare hinzu. Sei's drum; auch diese Branche will leben. Wenn ich dann höre, dass ein Goldhamster operiert wird, diese OP 145 Euronen kostete und der nach einigen Wochen sein stark befristetes Leben aushaucht, frage ich mich doch tatsächlich, ob eine den Kids unter gejubelter Klon aus der industriellen Produktion für 10 Euro es nicht auch gemacht hätte.
    Tierliebe geht durch den Geldbeutel.

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  7. Was ich ganz vergessen habe zu erwähnen ist, daß diese Fehlentwicklungen am Tier auf züchterischen Erfolgen, sprich vom Menschen gemacht sind. Das nennt man liebevoll Qualzüchtung. Wölfe kennen keine verkümmerte Hüfte, keine haarlosen Körper oder zu kurze Nasengänge. Tierärzte dafür um so besser. Der Mensch hat schon eine merkwürdige Vorstellung von Tierliebe. Das Viech ist halbtot, friert sich einen Ast, hat eine chronischen Nasennebenhöhlenentzündung, sieht nix, ist aber sooooooooooooo niedlich, daß man es einfach lieb haben und ständig mit sich rumschleppen muß. Der Tierarzt sorgt dann dafür, daß der kleine Krüppel irgendwie am Leben bleibt. Vor lauter uneigennützigen Tierliebe natürlich.

    Ausnahmen bestätigen die Regel. Als ich mit einem auf keine Reize mehr reagierenden Zwergkaninchen beim Tierarzt auftauchte, war seine erste Frage: »Einschläfern?« Im Anbedacht der Tatsache, daß dieses Karnickel noch kein Jahr alt war, entschlossen wir uns von der Todesspritze erstmal abzusehen. Kurz: Es erfreut sich wieder seines Lebens und seine Gesundung kostete mich nur einen zweistellligen Betrag, den ich als angemessen betrachte.

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